Business Reengineering


Wilfried Glißmann

Worum geht es bei der Reorganisation der Unternehmen?

Handout zum Vortrag
auf der Fachtagung der IG Metall
"Arbeiten in der Informationsgesellschaft"
am 21. und 22. Juni 1996 in Düsseldorf

 

 

 

 

 

Inhalt:

Vorbemerkung
Über den Autor und über den Arbeits- und Forschungszusammenhang, der die Erkenntnisse dieses Papiers erst möglich gemacht hat.

W. Glißmann:
Neue Unternehmenskonzepte - Neue Mechanismen. Konsequenzen für die Beschäftigten

Das ganze Problem - angerissen auf zwei Seiten. Das Phänomen einer "neuen Dynamik" in den Unternehmen; Die ungebremsten Auswirkungen dieser neuen Prozesse in den USA. Was bedeutet das für uns in Deutschland (als Mitarbeiter oder Betriebsrat in der IT Branche)?.

W. Glißmann:
Die neue Organisation der Arbeit und die Frage der Solidarität

Die neue Dynamik in den Unternehmen untergräbt die alten Voraussetzungen für die Entwicklung von Solidarität. Wo sind in diesem Prozeß Ansätze zu finden, für die Entwicklung einer neuen Solidarität?

W. Glißmann / J. Laimer / K. Peters / St. Siemens:
Erste Schlußfolgerungen aus dieser Analyse

Welche Konsequenzen ergeben sich aus der Analyse der Umbruchprozesse für die künftige Wahrnehmung von Arbeitnehmerinteressen? In acht Thesen wird versucht, Ansätze aufzuzeigen.


Vorbemerkung

Mein Bezug zum Thema des Business Reengineering

Mein Bezug zu diesem Thema ist zum einen ein praktischer und zum anderen ein wissenschaftlicher.

  • Als Gesamtbetriebsrat (und später als Aufsichtsrat) der IBM Informationssysteme GmbH bin ich seit 1992 mit dem Thema des Reengineering der IBM Corporation konfrontiert.
  • Ebenfalls seit 1992 stehe ich in einem wissenschaftlichen Arbeits- und Forschungszusammenhang über Selbstorganisationstheorien und deren Bezug zu den Umbrüchen in der Industrie.

Die Reorganisation und der einzelne Mitarbeiter

Die betriebliche Reorganisation verändert die Stellung des einzelnen Mitarbeiters grundlegend: In einem nie gekannten Ausmaß muß er selbst Entscheidungen treffen, seinen Weg selbst bestimmen und seine berufliche Zukunft selber sichern.

In den neuen "teilautonomen Einheiten" verspüren die Mitarbeiter an sich selbst eine ganz neue Dynamik. Ihre Empfindungen und Einschätzungen schwanken zwischen "ganz toll" und "ganz schlimm".

In diesem Handout sollen Ursachen und Charakter dieses Phänomens analysiert werden.

Die Reorganisation und der Betriebsrat

Der Umbruch der Unternehmen stellt sich in vielfacher Hinsicht "individuell gebrochen" dar. Weniger denn je, sind die Mitarbeiter im Betrieb in einer gemeinsamen, allgemeinen Lage, die durch eine allgemeine Lösung (Regelung) des Betriebsrates beantwortet werden kann.

Der einzelne Mitarbeiter findet sich in Situationen, in denen er sich gezwungen sieht, für sich selbst individuelle Lösungen und individuelle Strategien zu entwickeln.

Ansätze des Kollektiven

Durch diese faktische Vereinzelung der Individuen in der neuen Organisation bekommen erste, unscheinbare Ansätze des Kollektiven eine ganz neue Bedeutung:

  • Das Reden der Individuen miteinander darüber, wie sie die Situation sehen.
  • Das Reden über ihre individuellen Strategien (und ihr Umgehen mit den Dilemmata)
  • und (auf der Grundlage dieser wechselseitigen Verständigung und Reflexionen) das Erkennen von vorteilhaften Rahmenbedingungen für die Individuen, die dann durch den Betriebsrat durch betriebliche Regelungen vereinbart werden können.

In meiner Arbeit als Betriebsrat der IBM Informationssysteme in Düsseldorf habe ich die große Bedeutung solcher "Selbstverständigungsgespräche" kennengelernt.

Begreifen, was geschieht

"Reden allein genügt nicht". Es gehört dazu auch ein wissenschaftliches Begreifen der Prozesse, in denen wir uns in der Reorganisation der Arbeit befinden.

Die hier vorgetragenen Erkenntnisse sind das Ergebnis einer mehr als vierjährigen wissenschaftlichen Zusammenarbeit zwischen den Betriebsräten Jürgen Laimer (Bull) und Wilfried Glißmann (IBM) und den Philosophen Dr. Klaus Peters (Köln) und Stephan Siemens (Bonn). Dieser private "selbstorganisierte" Arbeitszusammenhang war und ist für meine praktische Arbeit als Betriebsrat sehr wichtig.

Die "Denkanstöße" von Klaus Peters auf verschiedenen IG Metall Mitgliederversammlungen in der IBM haben gemeinsam mit uns "Betroffenen" im Unternehmen zu neuen Erkenntnissen geführt. In den letzten Jahren hat sich so eine neue Form der Verbindung von Theorie und Praxis entwickelt. Ohne diese neuartige Verbindung wären die hier vorzutragenden Erkenntnisse nicht möglich gewesen.

Handlungsfähig werden

"Wie können wir im Betrieb handlungfähig werden?" Zu dieser Frage will dieses Handout einen Beitrag leisten. Nur wenn wir "begreifen was geschieht" können wir den Ansatzpunkt für praktisches Handeln finden.

Nachweis übernommener Texte:

Der Springer Verlag (Heidelberg) hat freundlicherweise den Vorabdruck des folgenden Aufsatzes gestattet:

  • Wilfried Glißmann: Neuorientierung von Selbstverständnis und Aufgabe der betrieblichen Interessenvertretung. Aus: Bullinger/Warnecke (Hrsg.): Neue Organisationsformen im Unternehmen - Ein Handbuch für das moderne Management. Heidelberg (Springer) 1996 (in Druck) Das Buch erscheint voraussichtlich August 1996.

Mit freundlicher Genehmigung der Friedrich-Ebert-Stiftung erfolgt der Nachdruck von:

  • Klaus Peters: Der Begriff der Autonomie und die Reorganisation von Unternehmen. In: Else Fricke (Hrsg.): Betrieblicher Wandel und Autonomie von Ingenieuren. Bonn (Friedrich-Ebert-Stiftung - Forum Humane Technikgestaltung) 1995

Meine Texte in diesem Handout verarbeiten (ohne nähere Quellenangabe) Ergebnisse der folgenden Arbeiten:

  • Klaus Peters: Das Verhältnis von Selbstorganisation zu Selbstbestimmung. (Ein unveröffentlichtes Manuskript zum Begriff Selbstorganisation)
  • Klaus Peters: Für sich selber sorgen. (Unveröffentlichte Manuskripte zu Egoismus und Altruismus)

Wilfried Glißmann; Köln den 16. Juni 1996


Neue Unternehmenskonzepte - neue Mechanismen.
Konsequenzen für die Beschäftigten

In den letzten Jahren haben sich die großen IT-Unternehmen wesentlich umgestaltet ob sie nun IBM, digital, HP oder SNI heißen. Einige Änderungen sind unmittelbar sichtbar. Zugleich aber sind neue Mechanismen entstanden, die man nicht auf den ersten Blick erkennen kann.

Sichtbare Veränderungen:

Segmentierung: Die Unternehmen haben den Markt segmentiert und jedem Marktsegment ein Unternehmenssegment gegenübergestellt

Internationalisierung: Diese Unternehmenssegmente sind international organisiert, wichtige Unternehmensentscheidungen fallen auf internationaler Ebene, die Bedeutung der nationalen Geschäftsführungen ist deutlich reduziert worden.

Kernkompetenzen & Outsourcing: Konzentration auf Kernkompetenzen und die Ausgliederung weniger wesentlicher Bereiche ("eliminate low value work") sind zwei Seiten einer Medaille.

Unternehmensnetzwerk: langfristige Partnerschaften und das Management verschiedener Vertriebskanäle bestimmen das Bild.

Neue Mechanismen -Segmentierung & das neue Prinzip

Die alte Organisation war funktional gegliedert und hierarchisch (mit vielen Managementebenen) organisiert. Es war ein System von Management-Anweisungen ("command-and-control")

Die neue, segmentierte Organisation soll den Unternehmen ein neues Prinzip eröffnen. Den (relativ wenigen) Mitarbeitern eines Segmentes kann man sagen:

  • "Seht, da ist euer Marktsegment, das ist eure Welt, da müßt ihr euch bewähren. Dort müßt ihr um das Überleben eurer Unternehmenseinheit kämpfen."
  • Das neue Prinzip lautet: "Macht was ihr wollt, aber seid profitabel! Die Sicherheit eurer Arbeitsplätze liegt in euerer Händen."

Den Marktmechanismus spürbar machen

Die Zahl der Mitarbeiter eines Unternehmenssegments ist überschaubar. Es wird nun vieles getan, daß diese Gruppe von Mitarbeitern die Auswirkungen ihres Erfolges am Markt deutlich zu spüren bekommen. Das unternehmerische Handeln (also die Arbeit um die Erfolg am Markt) ist mehr denn je Teil des Arbeitshandelns der Menschen auf dem "doing-level".

Stichwort: Intrapreneuring - Mitarbeiter als Unternehmer.

Eine neue Dynamik unter den Mitarbeitern

Was die Menschen in diesen Einheiten treibt, sind nicht Anweisungen des Managements, sondern die "Sachzwänge des Marktes" selbst. Das Management und der Unternehmer zieht sich geradezu systematisch zurück und sagt: "Ihr seht doch selbst, was zu tun ist, also tut es."

USA: "dejobbing" - das Ende der Grenzen eines Jobs

Diese neue Dynamik ist in den USA am deutlichsten zu studieren, da sich dort dieser Prozeß seit Jahren ungebremst durchsetzt. Ein genauer Beobachter der neuen Phänomene ist William Bridges. Sein Buch ist soeben ins Deutsche übersetzt worden:

William Bridges: Ich&Co. Wie man sich auf dem neuen Arbeitmarkt behauptet. Hoffmann und Campe.

Bridges zeigt die neuen Arbeitsbedingungen am Beispiel von Microsoft: Der Marktdruck wird unmittelbar auf die Arbeitsgruppen vermittelt. Die Zuständigkeit und Verantwortung des einzelnen Mitarbeiter kennt keine Grenzen mehr - z.B. keine Grenzen durch eine Job-Beschreibung (daher spricht Bridges von "dejobbing"). Und der Druck kommt nicht mehr vom Management sondern vom Team als "peer-group-pressure".

Die "neuen Regeln" der Beschäftigung - (the "contingent worker")

Bridges nennt den neuen Arbeitnehmer "contingent worker". Dieser Begriff wird in der deutschen Ausgabe des Buches falsch übersetzt als "abhängig Beschäftigter".

Aber "abhängige Beschäftigung" (abhängig von den Anweisungen eines Vorgesetzten) ist völlig alt, was Bridges meint ist der "bedingt Beschäftigte" und er erklärt:

  • "Das bedeutet, daß jedermanns Beschäftigung von den Ergebnissen des gesamten Unternehmens abhängt."
  • "Im Rahmen ihrer 'Abhängigkeit' [Bedingtheit!!] müssen Mitarbeiter eine Arbeitseinstellung entwickeln und ihre Karriere organisieren, wie es Selbständige und Freischaffende tun." "Arbeiter sollten so arbeiten, als wären sie ihre eigenen Unternehmer."
  • "Eine langfristige Beschäftigung in einem Unternehmen gehört für die meisten Angestellten der Vergangenheit an."

Die "employability"

Eine andere Bezeichnung in den USA für das Neue ist die "employability" - die "Beschäftigungsfähigkeit" eines Angestellten. Gemeint ist dieses: es liege ab sofort in der Verantwortung des Angestellte, seine Beschäftigungsfähigkeit sicherzustellen.

Was hat das mit uns in Deutschland zu tun?

Die arbeitsrechtliche Situation in der Bundesrepublik ist völlig anders als in den USA. Anweisung von Arbeit "jenseits der Job-Beschreibung" - das geht rechtlich bei uns gar nicht. Also kein Thema für uns?

Dieser Gedanke ist möglicherweise ein Denkfehler! Denn diese Mehrarbeit wird ja gar nicht angewiesen vom Management, sondern die Menschen arbeiten "wie von selbst" ohne Ende. Das Mitarbeiterteam wird so unter Marktdruck gestellt, daß es wechselseitig den Druck weitergibt. Und gegen "peer-group-pressure" hilft auch kein Betriebsverfassungsgesetz.

"Warum machen die Menschen das?"

Es kommt daher für uns Deutsche darauf an, zu verstehen worum es bei dieser neuen Dynamik geht; "Warum machen diese Kollegen das?" Warum arbeiten sie "wie von selbst" bis in die Nacht hinein und dann auch noch am Wochenende zu Hause weiter? Diese Erscheinungen gibt es auch in den Unternehmen unseres Landes.

Als Außenstehender (z.B. auch als Betriebsrat!) kann ich den Kopf schütteln und mich abwenden: "Die spinnen einfach".

Oder ich kann sie belehren: "Seht ihr denn nicht, daß das eurer Gesundheit schadet?". Das erweckt aber den Eindruck, ich wüßte besser als sie selbst, was für sie gut ist.

Unter Betriebsräten werden mitunter Diskussionen geführt: "Wie kann man diese Kollegen vor sich selber schützen?"

Man kann keinen Menschen vor sich selber schützen

Es kommt darauf an, daß die Menschen in diesen neuen "empowerten" Einheiten selbst lernen, sich "vor sich selbst zu schützen". Daß sie also lernen mit den neuen Arbeitsbedingungen umzugehen.

Betriebsräte und gewerkschaftliche Vertrauensleute sollten mit diesen Kollegen sprechen, wie sie die neue Arbeit wahrnehmen. Solche Gespräche sind hochinteressant.

Gefühle zwischen "ganz toll" und "ganz schlimm"

Es ist etwas ganz tolles, ohne direkte Anweisungen des Managements arbeiten zu können und tatsächlich einen großen Entscheidungsspielraum zu haben. Ebenso die Erfahrung, geschäftlich etwas bewegen zu können und dabei auf internationaler Ebene zu agieren.

Gleichzeitig ist es aber etwas, was den Menschen ganz und gar ergreift. Die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit gehen verloren und die eigentlichen Konflikte treten im privaten Bereich auf (von Partner / Partnerin oder Familie).

Menschen aus solchen neuen Arbeitformen berichten von einer großen Ambivalenz ihrer Gefühle. Einem Schwanken zwischen allen Extremen, zwischen "ganz toll" und "ganz schlimm".

Was ist zu tun?

Wie sollen wir mit dieser neuen Erscheinung umgehen? Sollen wir also fordern:

  • "Zurück in eine übersichtliche Abhängigkeit"?
  • "Wir wollen starke Vorgesetzte, die klare Anweisungen geben"?

Die Forderung nach einem Zurück zu "command-and-control" wird der Ambivalenz des neuen Phänomens nicht gerecht.

Wie könnte das Neue gestaltet werden?

Es kommt darauf an, hilfreiche Rahmenbedingungen zu erarbeiten:

  • Wie kann verhindert werden, daß die Mitarbeiter alles Risiko aufgebürdet bekommen?
  • Wie können sie sich über diese Dynamik selbst verständigen und von sich her Grenzen ziehen?
  • Wie müssen Vereinbarungen aussehen, auf die sich Mitarbeiter aus solchen Teams berufen können, wenn sie ihr Interesse durchsetzen wollen?

Dies erfordert aber, das neue Phänomen tief zu verstehen. Gemeinsam mit den Kollegen, die in solchen Arbeitsformen stehen, müssen wir als Betriebsrat versuchen, diese neue Dynamik zu begreifen. Wir in Deutschland haben (im Vergleich zu den USA) immer noch ganz gute rechtliche Möglichkeiten, durch Betriebsvereinbarungen und Tarifverträge Bedingungen festzulegen. Diese Regelungen helfen aber nur, wenn das Problem erkannt ist (sonst gehen sie ins Leere).

"dejobbing" - Arbeiten bei Microsoft USA

" 'Sie werden nicht lange bei Microsoft bleiben, wenn Sie ihren Job lediglich als Job auffassen', (..). Die Mitarbeiter arbeiten zu jeder Zeit und immer, ohne über ihre Stunden Buch zu führen, dafür achtet aber jeder selbst auf sein Arbeitsergebnis. Sie sind nicht konventionellen Managern unterstellt, sondern Projektgruppen, mit denen sie auch zusammenarbeiten." (61)

Es " 'dauert nicht lange, ein Teammitglied auszumachen, das nicht richtig mitzieht. Beim nächsten Treffen des Teams muß der Datenfachmann dann vor versammelter Mannschaft erklären, was er neu zum Projekt beizutragen hat. Das ist ein starker Anreiz für jeden, seine eigene Arbeit zu machen, und zwar vernünftig.' Wie wir gleich sehen werden, kann der damit verbundene Druck sehr hoch sein."

Dem System der Microsoft-Welt ".. mangelt es an 'Grenzen', an denen ein Angestellter feststellen kann, ob er seinen Job normal und zufriedenstellend gemacht hat. Da von ihnen erwartet wird, daß sie alles tun, was notwendig ist, um die erhofften Ergebnisse zu erzielen, fehlt ihnen der Schutz der Grenzen eines fest umrissenen Aufgabengebietes. Normal und ausreichend werden zum Synonym für unter dem Standard. Von den Angestellten bei Microsoft wird, wie von denen in vielen anderen Unternehmen ohne festumgrenzte Arbeitsplätze, erwartet, daß sie über die Grenzen hinaus arbeiten, die ein Job ihnen setzt." (62f)

Nach der Fertigstellung von Windows NT: "Die Mitarbeiter sahen der Zukunft mit gemischten Gefühlen entgegen. Viele gingen davon aus, daß sie an der nächsten Version von NT mitarbeiten würden, andere meinten, ein Kapitel in ihrem Leben sei nun zu Ende. Einige waren nur müde, standen kurz vor der totalen Erschöpfung. Charly Winter, einer der Grafikprogrammierer, sagte: 'Eine Menge Leute waren wütend, müde und völlig ausgebrannt.'

Dieselbe Freiheit am Arbeitsplatz, die enorme Kräfte mobilisiert, bringt die Menschen auch dazu, sich zu übernehmen." (Bridges, "Ich&Co", Seite 64)


Wilfried Glißmann:

Die neue Organisation der Arbeit und die Frage der Solidarität

Vorbemerkung

Solidarität (wie wir sie bisher kannten) wird in der neuen Organisation der Arbeit zum Problem.

Die Phänomene "Vereinzelung" und "Entsolidarisierung" haben in den neuen Prozessen eine objektive Grundlage.

Eine "neue Solidarität" wird nicht von selbst entstehen. Zugleich nimmt ihre Bedeutung zu. Im folgenden wird untersucht, wie die Grundlage für die Entwicklung einer neuen Solidarität in den neuen Prozessen selbst entdeckt werden kann.

Hintergrund der folgenden Ausführungen sind viele Diskussionen mit Kolleginnen und Kollegen in der IBM und meine wissenschaftliche Zusammenarbeit mit Klaus Peters und Stephan Siemens. Ich stütze mich im folgenden besonders auf eine Arbeit von Klaus Peters über das Verhältnis von Egoismus und Altruismus, ohne das einzeln nachzuweisen.

Übersicht

Zu Klärung des Kontextes: Eine Gegenüberstellung von "alt" und "neu"

  • Die hierarchische Organisation der Arbeit
  • Die neue Organisation der Arbeit

Die neue Dynamik & die Folgen

Es wird aufgezeigt, daß die neue Dynamik unter den Menschen eines Unternehmens-Segmentes sich als ein Mechanismus der Vereinzelung dieser Menschen erweist. Er führt "wie von selbst" dazu, daß die "Schwachen" und "Verzichtbaren" aus dem Segment heraus gedrängt werden (von ihren Kolleginnen und Kollegen - durch "peer-to-peer-pressure").

Was kann man tun - angesichts dieser Dynamik?

Es werden mögliche Reaktionen angeführt, die allerdings verworfen werden:

  • diesem Prozeß den "Wert Solidarität" entgegenzusetzen
  • mit moralischen Forderungen an den Prozeß heranzugehen
  • an das "WIR" oder an das "Kollektive" zu appellieren

Diese Ansätze werden deshalb verworfen, weil sie der folgende Auffassung nichts entgegensetzen (sondern diese Auffassung faktisch als zutreffend hinnehmen):

  • Es liege im Interesse des einen Mitglieds der Gruppe (des "Starken" und "Unverzichtbaren"), daß der andere (der "Leistungsschwache" und "Verzichtbare") heraus gedrängt wird.

Liegt diese Haltung (die man gemeinhin "Egoismus" nennt) tatsächlich im Interesse des Individuums in der Unternehmenseinheit? Oder was sonst liegt in seinem Interesse und wie kann er selber das feststellen?

Noch einmal: Was kann man dem Prozeß entgegensetzen?

Es geht in diesem Text darum, in dem Prozeß selbst die Ansatzpunkte zu entdecken, um den gefährlichen Konsequenzen des Prozesses entgegenwirken können.

Es geht um eine Alternative zu dem (m.E. unzureichenden und irgendwie hilflosen) Versuch, nur noch von außen (z.B. mit Forderungen der Moral) dem Destruktiven des Prozesses entgegenzutreten.

Alte und neue Solidarität

Wenn die Ansätze einer neuen Solidarität entdeckt werden sollen, dann gilt es die Solidarität zu begreifen, die historisch in den letzten hundert Jahren von den Beschäftigten erfunden und erkämpft wurde.

  • Welchen Charakter hatte diese alte Solidarität (die den alten Grausamkeiten des Kommando-Systems entgegen gestellt wurde)?
  • Welchen Charakter muß eine neue Solidarität haben, die angesichts der neuen Grausamkeiten des Systems selbstorganisierter Prozesse erfolgreich sein kann?

Die hierarchische Organisation der Arbeit

Innerhalb des hierarchisch organisierten Unternehmens geht es um

  • Anweisungen (rechtlich: "Direktionsrecht des Unternehmers"),
  • d.h. im Kern: um Befehl und Gehorsam
  • und somit um Zwang (als Grundlage von "Befehl und Gehorsam").

Daher kann die hierarchische Organisation als "Kommando-System" bezeichnet werden:

  • "system of command-and-control".

An den Grenzen des System hilft kein Kommando

Am "unteren" und am "oberen Ende" der Organisation hilft kein Kommando und keine Anweisung:

  • Die Arbeitenden auf dem "doing-level": diese müssen sich mit der "Sache" auseinandersetzen (d.h. mit ihrem Arbeitsgegenstand und seinen Gesetzmäßigkeiten).
  • Der Unternehmer am "Markt": auch hier gilt kein Kommando sondern die Konkurrenzverhältnisse unter den Warenanbietern und die Gesetzmäßigkeiten dieser Verhältnisse.

Die Rede von den "Sachzwängen"

Ich greife noch einmal die Unterscheidung von Zwang und Sachzwang aus dem vorangegangenen Aufsatz von Klaus Peters auf:

Der Unternehmer muß nicht gehorchen - aber er ist "Zwängen anderer Art" ausgesetzt. Man spricht hier von "Sachzwängen". Aber genaugenommen sind "Sachzwänge" keine Zwänge!

Zwang:

"'Zwang' in seiner eigentlichen Bedeutung bezeichnet eine bestimmte Art und Weise, in der Menschen ihren Willen bei anderen Menschen durchzusetzen versuchen."

'Sachzwang':

"Eine Sache zwingt mich nicht, weil sie nichts von mir will. Umgekehrt: Ich will etwas von der Sache, und das verlangt allerdings ein der Sache angemessenes Tun meinerseits."

Klar ist das beim Beispiel für den 'Sachzwang', wenn ich eine Maschine bauen will (doing-level):

Dann "muß ich mich nach den Hebelgesetzen richten und nach dem Satz des Pythagoras.

  • Da haben wir es nicht mit einem Zwang zu tun, den die Sache auf mich ausübt,
  • sondern mit ihren Gesetzmäßigkeiten, mit der in ihr liegenden Notwendigkeit. Und das ist (..) etwas ganz anderes als Zwang."

Schwieriger ist es beim "Sachzwang Markt":

In der alten Organisation der Arbeit war dies das Problem des Unternehmers (seine Probleme haben die Arbeitenden wenig interessiert).

Jetzt gilt es, die "Dynamik des Marktes", und das heißt: den Markt als einen "autonomen Prozeß" zu begreifen. Denn in der neuen Organisation der Arbeit erleben die Menschen im Unternehmenssegment eine solche "neue Dynamik" an sich selbst.

Die neue Organisation der Arbeit

Das ist das grundlegend Neue:

Die Arbeitenden im Unternehmenssegment (auf dem "doing-level") stehen in direkter Auseinandersetzung mit ihrem Markt-Segment:

Das neue Prinzip lautet:

"Macht was ihr wollt, aber seid profitabel in eurem Markt-Segment!"

  • Von der negativen Seite: Der "Kampf um das Überleben dieser Einheit am Markt" ist ihre Verantwortung und ihr Problem ("Ihr selbst habt die Sicherheit eurer Arbeitsplätze in der Hand").
  • Von der positiven Seite: "Das ist eure Chance. Hier könnt ihr eure eigenen Initiativen und Geschäfts-Ideen verwirklichen!" D.h.: unternehmerisches Handeln ist Teil ihres Arbeitshandelns geworden.

Wo ist der Unternehmer? Wo ist der Eigentümer?

Dieser ist natürlich nicht verschwunden; alles geschieht nach wie vor innerhalb der bisherigen Eigentumsverhältnisse). Verschwunden ist nur die direkte Steuerung durch den Unternehmer. Der Unternehmer steuert indirekt: durch die Setzung von Rahmenbedingungen (Aus einer Unternehmer-Setzung entsteht z.B. der Zuschnitt von "Markt-Segmenten"!).

D.h.: Der Unternehmer setzt sich selbst als eine weitere Rahmenbedingung (neben die Rahmenbedingung "Markt").

Für die Arbeitenden gibt es nur noch "Sachzwänge":
"Macht was ihr wollt ..."

... dieses neue Prinzip setzt die Arbeitenden (auf dem doing-level) in eine neue und verwirrende Situation: Der Zwang ist weg, sie selbst sollen handeln (und erfolgreich am Markt sein). Verantwortlich für den Erfolg am Markt sind jetzt sie selbst - und niemand sonst.

"... aber ihr müßt profitabel sein!"

Diese zweite Seite gehört untrennbar dazu, z.B. so: "Eine Einheit, die zwei Jahre hintereinander rote Zahlen schreibt, wird zugemacht!" Das ist jetzt das Problem der Arbeitenden auf dem doing-level (also nicht mehr das Problem des Unternehmers!).

Die neue Dynamik im Unternehmens-Segment

Für die Menschen in der Einheit gibt es nur noch "Sachzwänge" und in der Sache liegende Dilemmata (besonders bekannt ist der "Sachzwang Weltmarkt").

Noch verwirrender: es gibt keinen direkten Gegner mehr. Keinen anderen, den man verantwortlich machen kann, der erkennbar "schuld ist" und der "endlich seiner Verantwortung gerecht werden muß".

Auf diese Weise kommt unter den Menschen dieser Einheit eine neue Dynamik auf, die zu ungewöhnlichen Konsequenzen führen kann: sie kann bedrohlich werden für einzelne Mitglieder der Gruppe, "harte unternehmerische Entscheidung" gegen einzelne.

Ist es eine "Wertschöpfungsgemeinschaft"?

Wolfgang Reitzle (Vorstand BMW) hat das schöne Wort von der "Wertschöpfungsgemeinschaft" für solche Einheiten geprägt. Es sieht ja auch so aus: Immerhin ringen die Menschen dieser Einheit gemeinsam um den Erfolg am Markt. Das unternehmerische Handeln ist ihr gemeinsames Tun - also scheint es doch ein klarer Fall von Gemeinschaft zu sein.

Die Analyse des Prozesses und die Erfahrungen der Betroffenen zeigen aber das Problem:

Die neue Dynamik in diesen Einheiten ist derart,

  • daß jeder seinen Beitrag bringt (und zu bringen hat), und
  • jeder jeden kontrolliert, ob er auch tatsächlich seinen Beitrag bringt.

Der einzelne Mitarbeiter im Unternehmenssegment hat also zu der Dynamik folgendes Verhältnis:

  • er ist der Anbieter seines Skills (seines Wissens)
  • er erbringt seinen Leistungsbeitrag für das Segment

In einer krisenhaften Situation (z.B. wenn die Aufträge nicht für alle reichen, wenn die Einheit tief in roten Zahlen steckt) wird dieses Verhältnis der Dynamik zum einzelnen ernst:

  • Welcher Beitrag ist für den Unternehmenzweck wichtig und welcher weniger wichtig?
  • Wer hat unverzichtbares Wissen und wer hat weniger wichtiges Wissen (oder gar veraltetes Wissen)?

Ein Mechanismus der Vereinzelung der Menschen

In dieser Situation wird es deutlich: Die Individuen stehen in der Dynamik als individuelle Anbieter ihres Skills und diese Dynamik ist ein Mechanismus der Vereinzelung dieser Menschen, sie macht die Menschen in dieser Einheit zu Konkurrenten.

Hoffnungsvoll sagt sich jeder: "Wer gut ist, der hat kein Problem." In diesem Satz bedeutet "gut sein" dieses:

  • einen aktuellen Skill mit hohem Marktwert besitzen
  • einen hohen Leistungsbeitrag erbringen
  • unverzichtbar sein für den Unternehmenszweck der Einheit.

Die Dynamik trennt somit die Menschen (vor allem in krisenhaften Situationen): in "Unverzichtbare" und "Verzichtbare" in "Starke" und "Schwache" (z.B. Leistungsschwache).

Wer zweifelsfrei zu den "Unverzichtbaren" gehört, der hat (vorläufig!) kein Problem. Die "Schwachen" und "Verzichtbaren" spüren die Bedrohung, und die Menschen "dazwischen" wollen natürlich nach Möglichkeit zu den "Starken" gezählt werden.

"Mein Interesse, daß der Andere rausfliegt"

Diese Krisen-Situation läßt in den Köpfen wie von selbst folgenden Gedanken aufkommen:

  • "Es liegt in meinem Interesse, wenn jener andere (der 'Schwache', 'Verzichtbare') aus der Einheit rausgeht."

Selbst der heute noch "Starke" und "Unverzichtbare" weiß, daß Änderungen der Marktnachfrage und die schnelle Veralterung von Wissen ihn in ein paar Jahren als verzichtbar erscheinen läßt.

Das aber verstärkt den Mechanismus:

  • "Je mehr andere gehen, um so sicherer mein Arbeitsplatz"

Was kann man tun - angesichts dieser Dynamik?

Mit dem Wert Solidarität an den Prozeß herantreten?

Besteht die Lösung darin, dieser bedrohlichen Seite der Dynamik mit Werten, mit moralischen Forderungen entgegenzutreten? Das würde aus der Perspektive des sogenannten "Starken" in der Gruppe folgendes bedeuten:

  • "Mein Interesse sagt mir, der (Leistungs-)Schwache muß gehen.
  • Der Wert Solidarität sagt mir 'Das darfst Du nicht tun'.
  • D.h.: Die Moral fordert von mir, daß ich etwas gegen mein individuelles Interesse tun solle."

Wenn die Sache tatsächlich so wäre, daß die Moral dem Interesse des einzelnen entgegengesetzt wäre, und umgekehrt: daß dem individuellen Interesse (mit seinen verhängnisvollen Folgen) nur noch moralische Forderungen entgegen gesetzt werden könnten, dann wäre die Lage wirklich schlimm und wahrscheinlich sogar aussichtslos!

Die Sachlage sieht zwar so aus, sie erscheint so (insbesondere dem sog. "Starken" in der Einheit). Sie erscheint ihm aber nur deswegen so, weil er die neue Dynamik dieser Einheit nicht begriffen hat, weil diese Dynamik ihn mitgerissen hat und sein Denken und seine Wahrnehmung okkupiert hat.

Hier liegt eine fundamentale Verwechslung vor.

Es ist die Dynamik des Prozesses in der Einheit selbst, die bei mir (als Mitglied dieser Einheit) die Verwechslung hervorruft:

  • das VON SELBST des Prozesses (seine 'Autonomie') wird von mir verwechselt
  • mit MIR SELBST.

Formulieren wir den Unterschied etwas anders und damit vielleicht etwas verständlicher:

  • Was will ich selbst und was will das Unternehmen?
  • Was setze ich mir als meinen Zweck und was setzt sich das Unternehmen als Zweck?

Die abhängig Beschäftigten der alten Organisation hatten dieses Problem nicht: ihnen stand der Unternehmer als eine andere Person gegenüber, die etwas wollte. Bei Konflikten war klar:

  • "Was der will, das wollen wir nicht"

Auf dieser Grundlage konnte es zu solidarischen Aktionen kommen. Jetzt aber findet dieser Gegensatz im Kopf ein und desselben Menschen statt (in krisenhaften Situationen umso heftiger und dramatischer).

Wenn ich mich von der Dynamik treiben lasse...

Wenn ich mich von der Dynamik treiben lassen, dann bewirkt sie in meinem Kopf faktisch folgende Einstellung:

  • der höchste Zweck der Unternehmens-Einheit ist der wirtschaftliche Erfolg
  • und mein höchster Zweck ist das Geldverdienen.

Damit aber sehe ich den anderen Menschen in der Gruppe nur noch als ein Mittel für mein einzelnes Interesse, als ein Mittel zum Zweck meines Geldverdienens (und er sieht mich ebenso!).

Diese Zwecke (Geldverdienen, wirtschaftlicher Gewinn) sind prinzipiell maßlos, sie haben eine sich in sich beschleunigende Logik (d.h. sie haben selbst nichts in sich, was eine Grenze setzt).

Was heißt hier "höchster Zweck"?

Diese Rede vom "höchsten Zweck" klingt vielleicht pathetisch und merkwürdig. Aber das hier Beschriebene erfolgt "wie von selbst" und unausgesprochen. Die beteiligten Menschen sind sich dessen in der Regel überhaupt nicht bewußt (Die enorme Beschleunigung und das Moment von Bewußtlosigkeit gehören übrigens wesentlich zu dieser neuen Dynamik).

"Geldverdienen als höchster Zweck" - das kann man in der abstrakten Überlegung so denken. Aber die wirklichen Menschen haben vielfältige Bedürfnisse und somit sind die Konflikte vorprogrammiert (im sogenannten "privaten Bereich"). Die Maßlosigkeit des Prozesses treibt die Menschen zu Konflikten in ihren sozialen Bezügen.

Was will ich sonst noch - außer Geldverdienen?

Solche Fragen stellten sich früher die Menschen in ihrer Freizeit (also in ihrer Zeit der Autonomie im 1. Sinne!). Die Dynamik des Prozesses zwingt nun die beteiligten Menschen, sich diese Frage immer häufiger zu stellen (bei Strafe einer biographischen Katastrophe): "Was will ich wirklich selbst?"

Bei aller Gefährlichkeit der Vorgänge ist das im Kern positiv: Es geht hier um eine Frage, die für die Entwicklung der Persönlichkeit zentral ist. Die Entwicklung einer Fähigkeit zu wirklicher Selbstbestimmung entwickelt sich nur über die Reflexion und Arbeit an dieser Fragen:

  • Was will ich wirklich selbst?
  • Und wie kann ich überhaupt feststellen, was ich wirklich will und was nicht?

Warum immer dieses "ICH"?

Die Formulierungen dieses Textes werfen vielleicht folgende Fragen auf:

  • Warum ist hier immer wieder vom "ICH" die Rede?
  • Warum so wenig von Kollektivem?
  • Warum nicht vom "WIR"?
  • Warum nicht einmal von "DU"?

Ist all das nicht ein vollständiger Bruch mit der Tradition der Gewerkschaftsbewegung?

Die bisherige Analyse hat auf jeden Fall einen fundamentalen Bruch in der Organisation von Arbeit aufgezeigt. Ein überraschendes Ergebnis ist, daß das "WIR" ambivalent wird:

"WIR müssen am Markt überleben." -Wer ist das "WIR" in diesem Satz?

Dies ist nichts anderes als das WIR der neuen Dynamik der Einheit (also das WIR des Unternehmenszwecks dieser Einheit). Das ist das WIR, das den einzelnen Mitgliedern gefährlich werden kann (den aktuell "Schwachen").

Was kann man dem Prozeß entgegensetzen?

Verschiedene Gedanken wurden erörtert und (so jedenfalls meine Meinung) - verworfen:

  • Werte entgegensetzen (z.B. der Wert Solidarität)
  • Moralische Forderungen entgegensetzen
  • Ein WIR entgegensetzen

Wo ich die Lösung sehe

Meiner Meinung nach ist die Lösung in einer anderen Richtung zu suchen. Nämlich in dieser Frage: "Was will ich wirklich selbst?"

Zur Lösung dieses schwierigen Problems ist m.E. etwas scheinbar völlig Paradoxes notwendig: ICH sagen!

  • Was will ich selbst? (Und was will das Unternehmen)?
  • Was setze ich mir als meinen Zweck? (Und was setzt sich das Unternehmen als Zweck?)

Weiter oben wurde gezeigt:

Wenn ich mich von der Dynamik treiben lasse, geschieht dies:

Das Geldverdienen wird faktisch aus einem Mittel zum Leben zum höchsten Zweck des Lebens. Umgekehrt wird mein gesamter Lebensprozeß zum bloßen Mittel für diesen Zweck (Geldverdienen). Andere Menschen werden ebenso als Mittel zu diesem Zweck gesehen.

Worauf es nun ankommt:

Erst wenn ich die Frage: "Was will ich wirklich selbst?" stelle, schaffe ich mir die Möglichkeit, aus dieser Vertauschung von Zweck und Mittel auszubrechen:

Die Entwicklung meiner Individualität wird zu meinem höchsten Zweck. D.h.: ich arbeite an den Frage: "Was ist mein Lebens-Zweck? Welche Zwecke gebe ich mir selbst?"

Mein (Lebens-)Zweck ist selbstverständlich etwas ganz persönliches, etwas individuelles. Ein anderes Individuum setzt sich einen anderen Lebenszweck. In welchem Verhältnis steht mein Geld-Verdienen zu diesem meinem Lebenszweck (bzw. Lebenszwecken?) Auf diese Frage finde ich für mich eine ganz persönliche Antwort und auf dieser Grundlage ein neues Verhältnis zu den anderen.

Dieses neue Verhältnis (von mir als Individuum zu mir selbst) ermöglicht mir zugleich, auch die anderen Menschen anders zu sehen:

  • Ich kann sie als Individuen sehen, die ihren ganz persönlichen Lebenszweck zu bestimmen suchen,
  • und nicht nur als Menschen, die ihren Beitrag zum Unternehmenszweck der Einheit bringen oder nicht bringen.

Wenn die Menschen der Unternehmens-Einheit beginnen, diese Frage (nach ihrem je individuellen Lebenszweck) für sich zu bearbeiten, dann kann unter dieser Voraussetzung eine neue Solidarität unter den Menschen der neuen Organisation der Arbeit entstehen.

Ist das nicht völlig utopisch?

Es ist heute eher selten, daß Menschen an der Frage "Was will ich wirklich selbst" fortwährend arbeiten. Vieles spricht dagegen, daß dies künftig anders sein wird und auf gar keinen Fall würde sich diese Änderung von selbst ergeben.

Aber ich bin überzeugt davon, daß es ohne diese utopisch erscheinende Voraussetzung nicht zu einer neuen Solidarität kommen wird. Das einzige, was von selbst entsteht, ist eine Form des Umgangs miteinander, die man als eine Variante von "Sozialdarwinismus" auffassen kann.

Vereinzelung & Solidarität

Die alte Vereinzelung

Vereinzelung von Arbeitnehmern ist natürlich nichts neues. Zur Zeit der Erfindung/Entdeckung von Manufakturen und Fabriken waren die (damit zugleich entdeckten und erfundenen) Arbeitnehmer vereinzelt:

  • Sie waren individuelle Anbieter ihrer Fähigkeiten
  • sie waren untereinander Konkurrenten um den Arbeitsplatz.

Hinsichtlich der historischen Überwindung der Vereinzelung war folgendes wichtig:

  • die Arbeitnehmer wurden in der Arbeit vom Unternehmer organisiert (durch Fremd-Organisation [=Kommandosystem] der Arbeit und auch durch die organisierende Wirkung der Maschinerie).
  • Unter dieser Voraussetzung erlebten sich die Arbeitnehmer in Konflikten als gleichermaßen Abhängige (abhängig vom Unternehmer).

Die Erfindung der alten Solidarität

Diese beiden Sachverhalte haben die Erfindung solidarischer Bewegungenformen (z.B. die Erfindung von Gewerkschaften) erleichtert - obwohl das immer noch schwer genug war und viele Jahrzehnte erfordert hat.

Die alte Solidarität hatte diese Grundlage - sie war die Solidarität der Abhängigen (abhängig Beschäftigten).

Die neue Vereinzelung

Die neue Vereinzelung erscheint dagegen in einer anderen, paradoxen Gestalt:

  • Die Vereinzelung unter den Menschen eines Unternehmens-Segments geschieht gerade dadurch, daß diese Menschen gemeinsam um das Überleben an ihrem Marktsegment kämpfen.
  • Jeder fordert von jedem seinen Beitrag zu diesem Prozeß und jeder kontrolliert jeden ob er den Beitrag bringt, ob er "seine Kosten reinbringt".
  • D.h.: Das Gemeinsame der Menschen einer Einheit wird somit ihre Existenz als Konkurrenten untereinander (Konkurrenten um die Möglichkeit der weiteren Teilnahme an diesem Prozeß).

Die Neue Solidarität

Die neue Solidarität kann nicht mehr die Solidarität der Abhängigen sein. Denn die Instrumentalisierung der Individuen für den Unternehmenszweck erfolgt

  • nicht mehr durch Abhängigkeit von Weisungen (Abhängigkeit von Menschen),
  • sondern durch eine Form von Selbständigkeit (die in Wahrheit eine Abhängigkeit von Prozessen & Rahmenbedingungen ist).

Diese neue Form der Unterordnung von Individuen unter den Unternehmenszweck funktioniert mit Hilfe einer Selbsttäuschung der Individuen.

Die Durchbrechung dieser Selbsttäuschung (d.h.: die Entwicklung der Individualität der Individuen durch zunehmendes Erlernen einer tatsächlichen Fähigkeit der Selbstbestimmung) wird zur notwendigen Voraussetzung einer neuen Solidarität. Sie kann daher nur eine Solidarität selbständig sein wollender Individuen sein, die begreifen, daß gemeinsame Selbstverständigung und gemeinsames Handeln Voraussetzung dafür sind, daß sie die entscheidende Frage nach dem Unterschied zwischen dem Unternehmenszweck und ihren individuellen Zwecken beantworten können.

Ein Kompromiß zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer

Der alte Kompromiß

In der Gewerkschaftsbewegung haben die Arbeitnehmer in den letzten hundert Jahren viele Sicherungen erkämpft. Viele dieser Sicherungen werden gegenwärtig von den Unternehmern mehr oder weniger in Frage gestellt.

Der alten Organisation der Arbeit (command-and-control) lag im Kern folgender Kompromiß zugrunde:

  • wir geben dir (Unternehmer) unsere Abhängigkeit (wir sind bereit deine Anweisungen zu befolgen - allerdings in vereinbarten Grenzen)
  • dafür verlangen wir von dir Sicherheit (verschiedene Sicherungen der Existenz)

Die erkämpften Sicherheiten hatten somit den Charakter, die Abhängigkeit erträglicher zu machen. Sie waren Sicherheiten in der Abhängigkeit.

Der Übergangsprozeß

Wie schon gesagt: die alte Sicherheiten werden gegenwärtig von den Unternehmern in Frage gestellt. Als Gegenleistung bieten die Unternehmer mehr Selbständigkeit. Darum: wenn es in diesem Änderungsprozeß tatsächlich um eine neue Organisation der Arbeit geht (wie die hier vorlegte Analyse behauptet), dann geht es um viel mehr als den Wegfall von Sicherheiten und Besitzständen.

Arbeitnehmer und Gewerkschaften können das Selbständigkeitsangebot der Unternehmer nicht ausschlagen und an den alten Formen der Abhängigkeit festhalten wollen. Aber wie sehen die neuen (noch zu erkämpfenden) Sicherheiten in der neuen Beziehung unselbständiger Selbständigkeit aus?

All das ist Neuland (und vieles wird sicherlich auch erst in der praktischen Auseinandersetzung der nächsten Jahre entdeckt und erfunden werden. Hier und heute ist entscheidend, daß wir die Probleme richtig begreifen, vor denen wir stehen.


Erste Schlußfolgerungen aus dieser Analyse

Acht Thesen von
Wilfried Glißmann, Jürgen Laimer, Klaus Peters und Stephan Siemens.

  1. Die neuen Managementformen zielen darauf ab, das Interesse des Einzelnen an seiner Selbständigkeit für den Unternehmenszweck zu instrumentalisieren.
  2. Sie zielen darum auf eine Vervollständigung der Unterordnung des Individuums unter den Unternehmenszweck ab: die Selbständigkeit des Einzelnen
    • soll nicht mehr gebrochen, sondern
    • instrumentalisiert werden.

Das heißt: das Gegenteil zu jeder Unterordnung (die Selbständigkeit) soll selbst untergeordnet werden.

  1. Dieses Wunder wird bei den Arbeitnehmern durch eine Selbsttäuschung möglich gemacht, in der sich die Unternehmer von Anfang an befinden:
    • So, wie der Unternehmer seine Aktivität am Markt als seine Selbständigkeit erlebt, obwohl diese Aktivität vom Markt beherrscht wird und nicht etwa umgekehrt der Unternehmer den Markt beherrscht,
    • so soll in Zukunft der Arbeitnehmer das VON SELBST der automatischen Dynamik von Prozessen und Systemen mit SICH SELBST verwechseln.
  2. Für die Entwicklung von Gegenstrategien ist grundlegend, daß sie nicht die alten Kommandoverhältnisse gegen die neuen Formen verteidigen dürfen.

Jede gewerkschaftliche oder betriebsrätliche Strategie, die bloß auf eine Verhinderung der neuen Schrecklichkeiten zielt - und damit unwillkürlich die alten Schrecklichkeiten als weniger schlimm unterstellt - muß auf die Dauer zu Mißerfolgen führen.

Sie ist sogar gefährlich, denn sie öffnet einen Widerspruch zwischen Interessenvertretung und Belegschaften und koppelt die gewerkschaftliche Strategie-Entwicklung von der Frage der Produktivitätssteigerung ab.

  1. Darum heißt die neue Schlüsselfrage: Wie können die realen Selbständigkeitsgewinne der beschäftigten Individuen (ohne die die neuen Managementformen nicht durchzusetzen sind!) zur Stärkung der Arbeitnehmerseite genutzt werden?

Die bisherigen politischen Formen der Arbeiterbewegung haben versucht, die mangelnde Selbständigkeit der Arbeitnehmer in eine politische Stärke umzumünzen. Sie antworteten auf die Kommandostruktur innerhalb der Unternehmen und werden gerade darum von den neuen Entwicklungen untergraben.

  1. Weil die neuen Managementformen zentral mit einer Selbsttäuschung der arbeitenden Individuen operieren, hängt alles davon ab, wieweit die Individuen diese ihre Selbsttäuschungen zu durchbrechen lernen.

Die Arbeit an der Aufhebung von Selbsttäuschung heißt BEGREIFEN:

Begreifen, wie es möglich ist, daß die Vervollständigung der Unterordnung des Individuums unter den Unternehmenszweck durch Selbständigkeitsgewinne erreicht wird.

Begreifen, was ich selber will, d.h. was ich mir zu meinem Zweck setze - im Unterschied zu den Zwecken des Unternehmens.

  1. Daraus ergibt sich, daß die Antworten (Gegenstrategien der Beschäftigten) bereits selbst selbständig gefunden werden müssen, also nicht stellvertretend von irgendwelchen Fachleuten für irgendwelche Betroffene entwickelt und dann an die Basis weitergegeben werden können.

Darum kommt Selbstverständigungsgesprächen der Arbeitnehmer eine politische Schlüsselrolle zu.

Aber: Solche Selbstverständigungsgespräche entstehen nicht "von selbst"! Sie bedürfen des Anstoßes und fortwährender Unterstützung und eines politisch erkämpften Freiraums.

  1. Die Gewerkschaften haben die Aufgabe, diesen Raum für gemeinsame Selbstverständigungsprozesse der Beschäftigten zu erkämpfen.

Die für die Bewältigung der Umbruchprozesse erforderlichen Qualifikationsmaßnahmen dürfen nicht bloß auf Anforderungen des Marktes reagieren. Sie müssen die Auseinandersetzung mit Macht- und Herrschaftsverhältnissen einschließen, wenn es zur Herausbildung wirklicher Autonomie kommen soll.

Dafür sind Erfahrungen und Erkenntnisse der Arbeiterbewegung unverzichtbar, die nur in Qualifikationsformen unter eigener Regie erarbeitet werden können. Erst aus solchen Anstrengungen um wirkliche Autonomie kann eine den neuen Verhältnissen entsprechende Solidarität entstehen. Dies ist zugleich die Voraussetzung dafür, daß sich Beschäftigte und Gewerkschaften als Gegenmacht zur Geltung bringen können.

Dies ist notwendig, weil die mit dem Umbruchprozeß verbundenen sozialen Probleme und Konflikte nicht etwa geringer, sondern größer werden.




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